Fachwissen Klinische Rechtsmedizin
Handlungsfähigkeit
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Im rechtsmedizinischen Sinn beschreibt der Begriff die Fähigkeit zu bewussten, sinnvollen und zielgerichteten Handlungen eines Menschen nach einer Verletzung durch äussere Gewalt oder durch eine Intoxikation.
Der handlungsfähige Verletzte muss sich zwar nicht mehr verhalten können wie vor der erlittenen Schädigung, jedoch in der Lage sein, sich zielgerecht zu äussern. Als sinn- oder zielgerichtet gelten z.B. Hilferufe, Fluchtbewegungen oder Abwehrhandlungen.
Nach einer rein funktionellen Definition werden auch reflektorische Bewegungen, Konvulsionen und andere unbewusste Motorik ebenfalls als „Handlungen" bezeichnet, welche z.B. die ursprüngliche Lage des Verletzten verändern oder Einfluss auf die Opfer-Täter-Interaktion nehmen können.
Kriminalistische Bedeutung erlangt die Frage nach der Handlungsfähigkeit, wenn es zur Dislokation von Tat- und Fundort gekommen ist oder offensichtlich diskrepante Angaben von Tatverdächtigen und Geschädigten vorliegen.
Wesentliche Kriterien für die Beurteilung der Handlungsfähigkeit sind Verletzungsschwere und -lokalisation.
Handlungsunfähigkeit nach Verwundungslokalisation
- Sofortige Handlungsunfähigkeit: Grosse Teile des ZNS
- Schnelle Handlungsunfähigkeit: Herz, Aorta, Truncus pulmonalis
- Verzögerte Handlungsunfähigkeit: Grosse Blutgefässe, Lunge, Leber, Milz, Niere
Schuldfähigkeit
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Schuldfähigkeit ist nach Art. 19 StGB die Fähigkeit, das Unrecht seiner Tat einzusehen und gemäss dieser Einsicht zu handeln.
Die Schuldfähigkeit kann durch unterschiedliche Arten psychischer Störungen beeinträchtigt oder aufgehoben sein. Im Vordergrund stehen psychiatrische Diagnosen wie der akute Einfluss psychotroper Substanzen, Persönlichkeits-störungen, sexuelle Devianz und Störungen aus dem Formenkreis der Schizophrenie.
Urteilsfähigkeit
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Urteilsfähigkeit ist nach Art. 16 ZGB ein jeder, dem nicht wegen seines Kindesalters oder in Folge von Geisteskrankheit, Trunkenheit oder ähnlichen Zuständen die Fähigkeit mangelt, vernunftgemäss zu handeln.
Bei Minderjährigen:
Patienten in der Altersstufe von 12 bis 18 Jahren gelten als weitgehend urteilsfähig, soweit sie psychisch gesund und bei Bewusstsein sind. Die Urteilsfähigkeit wird fallbezogen beurteilt (BGE 118 IA 238 Erw. 2b).
Faustregel: Bei Jugendlichen ab 16 Jahren kann Urteilsfähigkeit im Normalfall grundsätzlich angenommen werden.
Ein urteilsfähiger Patient muss
- verstehen können, was ihm das medizinische Personal erklärt
- überlegen können, ob er z.B. die Behandlung wünscht
- reagieren können auf die gewonnenen Erkenntnisse
- sich äussern können